Tramtexte 06
Wie schon zu den Museumsnächten der Jahre 2004 und 2005 fanden auch im Jahr 2006 am 2. September Lesungen von Tramtexten in der historischen Straßenbahn vor Kunsttempel und Stadthalle statt.
Wien, Berlin, München, Amsterdam, St. Petersburg und Perpignan sind die Stationen einer literarischen Reise mit der Straßenbahn. Sie ist jeweils Schauplatz heiterer Begebenheiten und Katastrophen, Objekt der Erinnerungen oder Träume in den ausgewählten Texten von Ilse Aichinger, Joseph Brodsky, Irina Liebmann, Thomas Mann, Marga Minco, Margriet de Moor, Claude Simon und Ludwig Thoma.
18-23 Uhr stündliche Lesungen
in historischen Straßenbahnen vor Kunsttempel und Stadthalle.
Projektleitung und Texte: Friederun Gutmann:
18 Uhr: Margriet de Moor, "Robinson Crusoe", gelesen von Carlo Ghirardelli
Komm, Noes. Steig jetzt mal in die Straßenbahn.
Die Linie zwei hielt vor seiner Nase.
Die Straßenbahn war gerammelt voll, aber trotzdem war für Noes noch ein Sitzplatz frei direkt vor einer schönen Mutter mit einer schönen Tochter, hellblond alle beide, mit rosigen, erhitzten Gesichtern.
ENDSTATION SEHNSUCHT
Die niederländische Autorin Margriet de Moor, 1941 geboren, wurde mit Erzählbänden und Romanen auch in Deutschland bekannt. Die Erzählung "Robinson Crusoe" stammt aus dem Band "Rückenansicht".
Der in ärmlichen Verhältnissen in Amsterdam lebende Indonesier Noes fantasiert sich als traurig-komischer Geschichtenerfinder vor einem staunenden Publikum in der Straßenbahn seine Insel der Glückseligkeit herbei.
19 Uhr: Claude Simon, "Die Trambahn", gelesen von Carlo Ghirardelli
Zu rennen beginnend in der Hoffnung, diese schicksalhafte Trambahn zu erwischen, sobald ich die Tür des Klassenzimmers hinter mir zugemacht hatte, die Treppen hinunterstürzend, über die Höfe stürmend, auf jener Place du Tribunal landend, die in gewisser Weise das moderne Zentrum der Stadt war.
DIE TRAMBAHN DER ERINNERUNG
Der große französische Schriftsteller Claude Simon starb im vorigen Jahr im Alter von 91 Jahren. In seinem letzten Werk führt er den Leser mit der Trambahn durch seine Erinnerung zu den Stationen seiner Kindheit in der südfranzösischen Stadt Perpignan. Gelesen werden Ausschnitte, in denen ein Sprachmagier eine untergegangene Welt beschwört
20 Uhr: Irina Liebmann, "In Berlin", gelesen von Anja Haverland
Alle Bleche und Scheiben der Straßenbahn scheppern am Ohr, wenn sie so Platz nimmt, am Fenster lehnt. Kann sein, daß das schön ist, gefällt, dieser Krach in der dröhnenden Karre, draußen Schleiflinien überall, Staub, Lastwagen ohne Farben, Reklamen, die uns begleiten, auch mal niedrige Autos dazwischen, Frauen am Steuer, langer Halt an der Wand Bahnhof Dimitroffstraße, Sandsteinquader verdunkeln die Straßenbahnfenster links.
STRASSENBAHNNETZ ALS LEBENSSPUR
Irina Liebmann wurde 1943 geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. In ihrem autobiografischen Roman fängt die rastlos die Stadt Durcheilende in einer atemlosen Sprache Straßenlärm und -leben ein. Die Protagonistin ist eine Grenzgängerin zwischen Ost und West, deren große Liebe zerbricht, als mit dem Fall der Mauer für sie auch alle politischen und privaten Sicherheiten einstürzen. – Gelesen wird der Anfang des Romans.
21 Uhr: Ludwig Thoma, "Auf der Elektrischen", Weiss Ferdl, "Ein Wagen von der Linie acht", gelesen von Peter Anger
Ein Wagen von der Linie acht,
Weißblau, fährt rasselnd durch die Stadt,
Kling kling, bim bam.
So fährt der Wagen schnell dahin,
Die Menschen, die im Wagen drin,
Die schauen gar grantig, niemand lacht
Da drin, im Wagn der Linie acht.
VOLKSTHEATER IN DER ELEKTRISCHEN
Zwei Münchner Satiriker beobachten ihre Mitmenschen da, wo sie notgedrungen eng zusammenrücken müssen – in der Trambahn. In ihren Humoresken zeichnen sie ein ungeschöntes Bild der Gesellschaft zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, bissig und liebevoll zugleich.
22 Uhr: Thomas Mann, "Doktor Faustus", gelesen von Jochen Krajewski
Der Wagen hielt, und ich begab mich von der vorderen Plattform, wo ich einstieg, ins Innere. Gleich bei der Schiebetür, links von meinem Eintritt, fand ich einen freien Platz, den offenbar ein Aussteigender eben verlassen. Die Tram war vollbesetzt, es standen sogar bei der hinteren Tür zwei Herren im Gange und hielten sich an Riemen. Den Großteil der Fahrgäste mochten heimkehrende Konzertbesucher bilden. Unter ihnen, inmitten der Bank mir gegenüber, saß Schwerdtfeger, seinen Geigenkasten aufgestellt zwischen den Knien.
DIE KATASTROPHE IN DER TRAM
Thomas Manns großer Roman, geschrieben im kalifornischen Exil, erschien 1947 in Stockholm. Herausgelöst aus dem vielschichtigen Werk werden Ausschnitte gelesen, in denen die Geschichte einer unglücklichen Liebe erzählt wird, die ihr tragisches Ende in einer vollbesetzten Münchner Tram findet.
23 Uhr: Kurzprosa und Lyrik, gelesen von Anja Haverland.
Ilse Aichinger, "Das vierte Tor"
Marga Minco, "Die Haltestelle"
Joseph Brodsky, "Ein Judenfriedhof bei Leningrad"
Die Tramway fährt so schnell daran vorbei, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, und verschwindet rot und glänzend im Dunst der Ebene. So bleibt denjenigen, die es suchen, keine andere Wahl, als beim dritten Tor schon auszusteigen und mit schnellen Schritten die kleine Mauer entlang zu gehen.
HALTESTELLEN
Die Österreicherin Ilse Aichinger und die Niederländerin Marga Minco sind Überlebende des Holocaust. In ihrer Prosa sind autobiografische Erfahrungen verarbeitet. I. Aichingers 1945 erschienener Text über den jüdischen Friedhof in Wien ist eine Vorstudie zu ihrem Roman "Die größere Hoffnung".
Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, politisch nicht angepasst, wurde 1972 ausgebürgert und 1977 amerikanischer Staatsbürger. 1987 erhielt der große Lyriker den Nobelpreis für Literatur